Ich ließ den Bericht, den mir die Wache überreicht hatte, so plötzlich fallen, als hätte ich mich an dem Pergament verbrannt. Ein kurzer Blick hatte ausgereicht, um den Inhalt zu erfassen. Zwei Vampire machten in New York Jagd auf Menschen. Meine Augen verengten sich zu Schlitzen. Damit hatten sie ein elementares Gesetz der Vampirwelt gebrochen. Niemand durfte in den Städten jagen. So sollte verhindert werden, dass die Menschen auf uns aufmerksam werden. Was fiel diesen Vampiren bloß ein?
Lebhaft konnte ich mir Caius‘ Reaktion auf diesen Regelverstoß vorstellen. Der schnelle Tod wäre eine Gnade, die er den Regelbrechern nicht zuteilwerden würde. Unsere Verließe waren gefüllt mit Vampiren, die sich angemaßt hatten, über den Gesetzen zu stehen. Auch heute leistete mir mein Bruder keine Gesellschaft im Thronsaal, sondern befand sich in den Kerkern.
Doch ich würde die Angelegenheit auf meine Art regeln. Natürlich musste an den Regelbrechern ein Exempel statuiert werden. Doch wozu sollte ich mir selber die Finger schmutzig machen? Beiläufig schnippte ich ein unsichtbares Staubkorn vom Ärmel meines Anzugs. Wozu hatte ich schließlich Wachen?
„Bringt Renata zu mir“, rief ich den beiden Gardisten zu, die an den Flügeltüren des Saals postiert werden. Sie beeilten sich, diesem Befehl nachzukommen, sodass kurz darauf die Gewünschte vor mir stand.
„Meister, Ihr habt nach mir geschickt.“ Sie verbeugte sich. Nach einem kurzen Austausch von Höflichkeiten kam ich zur Sache: „Ich habe die Kunde erhalten, dass zwei Vampire in New York jagen. Ich möchte, dass du die Angelegenheit untersuchst.“
Renata zögerte einen kurzen Moment lang, bevor sie antwortete. „Ich, Meister?“ Doch dann schien sie sich eines Besseren zu besinnen und schlug die Augen nieder. „Wie Ihr wünscht. Ich werde unverzüglich abreisen.“
Ich stutzte. Rasch ließ ich den Blick über meine persönliche Leibwache streifen. Wenn ich sie nicht besser kennen würde, könnte man meinen, alles wäre wie immer. Demütig stand sie vor mir und wartete auf weitere Instruktionen. Und doch… Ihr Zögern hatte mich irritiert. Es mochte ungewöhnlich sein, dass ich ausgerechnet sie auf diese Mission schickte, aber jedes Mitglied der Volturi wusste, dass meine Anweisungen bindend waren. Grundregel Nummer eins: unbedingter Gehorsam. Wieso dann dieses Benehmen? Hatte sie andere Pläne? Pläne, von denen ich nichts wissen durfte? Ich musste herausfinden, was dahinter steckte.
Ich ließ mir meine Irritation nicht anmerken und trat lächelnd einen Schritt auf sie zu. „Vielen Dank, Renata. Du bist mir eine außerordentlich große Hilfe.“ Die letzten Worte betonte ich, wobei ich sie unverwandt ansah.
Langsam streckte ich ihr meine rechte Hand entgegen. Für einen Außenstehenden hätte es eine harmlose Abschiedsgeste sein können, aber es war so viel mehr. Wenn Renata mir ebenfalls ihre Hand reichte, konnte ich erkennen, was in ihr vorging. Wenn sie sich weigern würde… nun, dann wüsste ich definitiv, dass sie etwas im Sinn hatte, von dem ich nichts wissen sollte. Und das würde Konsequenzen haben. Caius befand sich noch in den Kerkern.
Zuckersüß lächelnd wartete ich auf ihre Reaktion.